Blog 20.10.
Der Schweizer Journalist, Dramaturg und Jazzliebhaber Peter Rüedi hat mir zum gleichen Thema das Manuskript einer unglaublichen Radiosendung geschickt, die er in den 80er-Jahren mal für den NDR unter dem Titel But Beautiful gemacht hat. Ich bin zutiefst beeindruckt und empfehle diese Seite jedem Musikfan dringend!
My Favorite Arrangers II
Balladen habe es mir schon immer angetan. Sie können die wahre Kunst und Meisterschaft eines Arrangeurs oder Interpreten wohl am eindrücklichsten zeigen, weil es viel Raum zur Entfaltung gibt. Große Balladen wie Angel Eyes, Round Midnight, Body & Soul, The Shadow of Your Smile, My Funny Valentine, Cry Me a River, Somewhere over The Rainbow, You Must Believe in Spring, Summertime oder In A Sentimental Mood haben im Jazz unzählige SängerInnen und Arrangeure zu Höchstleistungen angespornt.
Ganz besonders gefallen mir die folgenden vier Alben, in denen es um eine besonders gelungene Zusammenarbeit zwischen den InterpretInnen und ihren Arrangeuren geht, die zum Besten gehören, was auf diesem Gebiet je hervorgebracht worden ist. Alben die man jahrzehntelang hören kann, ohne dass sie von ihrem Glanz etwas verlieren. Weil nur die Besten von den Besten daran beteiligt waren, und ihnen zusätzlich das Schicksal zu absoluten Sternstunden verholfen hat.
Billie Holiday - Lady in Satin
Columbia Records, 1958
Das Jahr 1958 scheint ein gutes Balladenjahr gewesen zu sein und hinterließ uns gleich zwei unvergessliche Alben der prägenden vokalen Figuren im Jazz des 20. Jh., von Frank Sinatra und Billie Holiday, die sich für Lady in Satin Ray Ellis (1923-2008) als Arrangeur ausgesucht hatte. Ellis – im Jazzbereich kaum tätig und ab 1959 A&R Director von MGM Records, war hauptsächlich ein kommerzieller Arrangeur und Filmmusikkomponist. Lady in Satin ist wohl sein einziges großes Statement, das er hinterlassen hat, wobei seine Arrangements damals nicht nur auf ungeteilte Zustimmung stießen. In den Liner Notes des Albums rechtfertigt sich Produzent Irving Townsend sogar, warum das für ihn noch Jazz ist, was heute eher grotesk anmutet. Jedenfalls war Ray Ellis der dezidierte Wunsch von Billie Holiday, und seine Arrangements unterstützen ihren Gesang perfekt und sind die Basis für eine kaum mehr zu überbietende Melancholie. Das liegt natürlich vor allem auch an Billie Holiday, die allen Schmerz der Welt in sich vereint und dieses Album in einem Maß beseelt, dass einem die Tränen kommen (müssen).
Im Player: I’am A Fool To Want You, You Don't Know What Love is, you’ve Changed
Frank Sinatra - Only The Lonely
Arranged und conducted by Nelson Riddle.
Capitol Records, 1958
Nelson Riddle (1921-1985), einer der ganz großen Arrangeure, hat u.a. zwanzig Alben mit Frank Sinatra, zehn mit Nat King Cole (darunter Unforgettable) und acht mit Ella Fitzgerald (besonders gelungen The Gershwin Song Book), bis auf zwei alle in den Jahren zwischen 1954 und 1966, gemacht.
Riddle, ein Meister im Instrumentieren und Reharmonisieren, hat diese vierzehn wunderbaren Tunes auf diesem Album mit Rhythm Section, Streichorchester, Holzbläsern und Hörnern in etwas Einmaliges verzaubert. Sinatra, der auch als Erfinder des Konzeptalbums gilt, hat Only The Lonely (beinahe hätte das Album For Losers Only geheißen) zu Recht als sein Lieblingsalbum bezeichnet. Wunderbar, wie hier die Streicher, Hörner oder Flöten eingesetzt sind und welche Stimmungen damit erzeugt werden. Alles bis ins kleinste Detail ausgelotet, nichts ist billig oder dient nur dem Effekt. Alles ist purer Luxus, jeder einzelne Takt glänzt in Gold. Wie Nelson Riddle at its best!
Aus der Feder von Rodgers/Hart stammen Spring Is Here und Where or When, von Arlen/Mercer Blues In The Night und One For My Babe And One For The Road, hier mit dem unvergesslichen Bill Miller am Klavier in einer, an Romantik kaum mehr zu überbietenden schwarzweißen After-Hour-Bar-Stimmung. In nur drei Tagen wurde 1958 das ganze Album eingespielt, das ist schon ziemlich unglaublich und war auch nur damals, in der Hochblüte (1945 – 1965) der amerikanischen Jazz- und jazzverwandten Unterhaltungsmusik möglich. Sinatra – der jedes Arrangement nach einmal hören auswendig konnte und deshalb nie probte – läuft auf diesem Album zu einer lyrisch-souveränen Höchstform auf. Mein Lieblingsstück neben Only The Lonely ist It’s A Lonesome Old Town. Aber ebenso unschlagbar sind Angel Eyes, What’s New oder Willow Weep For me.
Im Player: Only The Lonely, It’s A Lonesome Old Town, Angel Eyes
Shirley Horn with Strings - Here’s to Life
Verve, 1992
Der 1925 geborene und heute 93-jährige Posaunist und Arrangeur Johnny Mandel hat eine bewegte Karriere hinter sich. Bereits 1944 schrieb er seine ersten Be Bop-Arrangements für The Henry Jerome Orchestra, in dem übrigens ein gewisser Alan Greenspan (ja, genau DER) in der Saxophon-Sektion saß. Darauf folgte ein kurzes Intermezzo bei Jimmy Dorsey, danach Arrangements für Woody Herman und Artie Shaw. 1952 und 1953 diente der Posaunist Mandel zwei Jahre in der Basie Band, wo er die ganzen Arrangements von Neal Hefti als Spieler kennenlernte. Kurz danach hängte er seine Posaune an den Nagel und arrangierte 1960 für Sinatra das Album Ring-A-Ding-Ding, der Ritterschlag für jeden damaligen Arrangeur. Daneben zeichnete er sich als Komponist von einigen unvergesslichen Standards wie The Shadow of Your Smile, A Time For Love oder Emily aus. Danach wandte sich Mandel hauptsächlich der Filmmusik zu, ab dem Ende der 60-Jahre war die große Zeit der Arrangeure vorbei, die nun durch Keyboards ersetzt wurden. Interessantes Detail am Rande: die schweizerische Kulturstiftung Pro Helvetia gibt dezidiert keine Förderung, wenn in einem eingereichten Projekt Arrangements vorkommen. Was wohl Meisterarrangeur Gil Evans dazu gesagt hätte?
1992 wurde Mandel von Shirley Horn für eine Zusammenarbeit angefragt, die Mandel, der praktisch nur noch im Filmmusikbusiness unterwegs war, gerne angenommen hatte. Das Einmalige daran war der Umstand, dass Shirley Horn – um sich eine größere künstlerische Freiheit zu sichern, die Stücke zuerst im Trio einspielte. Mandel hat die Stücke dann Ton für Ton transkribiert und danach seine Arrangements mit einem opulenten Orchester samt sechs Hörnern auf Shirleys Trioversionen draufgesetzt. Eine Meisterleistung, vor allem auch die Einspielung – also das Dirigieren, wenn man bedenkt, wie frei die Grande Dame oft mit den quälend langsamen Tempi umgeht. Ihr Lieblingssolist Miles Davis, ein großer Bewunderer ihres Klavierspiels, der bereits auf dem Album You Won’t Forget Me ein Solo beigesteuert hatte, hatte ihr auch für dieses Album einen Beitrag zugesagt, verstarb jedoch kurz vor den Aufnahmen. Deshalb nahm Wynton Marsalis seinen Platz in A Time For Love (J. Mandel) ein.
Es ist die Kombination von Shirleys dunkler, brüchiger Stimme, ihren unglaublichen Piano-Voicings, ihrer ganz speziellen Phrasierung, ihrem Gespür für die richtigen Songs und ihren beiden seit fünfundzwanzig Jahren mit ihr spielenden Mitmusiker Charles Ables (Bass) und Steve Williams (Drums) und von Mandels orchestraler Brillianz mit genial eingesetzten Hörnern und Streichern – die jeder kleinsten Bewegung von Shirley folgen, ganz so, als ob sie zu einer Person verschmelzen würden – die diese Musik so einzigartig machen. Auch dieses Album habe ich, ebenso wie Lady in Satin und Only The Lonely, mehr als tausend Mal gehört und mir dabei ungefähr ebenso viele Flaschen Rotwein genehmigt.
Im Player: Here’s To Life, A Time For Love, Isn’t t A Pity? (Gershwin)
Joni Mitchell - Both Sides Now
Reprise, 2001
Der 1961 geborene amerikanische Trompeter und Arrangeur Vince Mendoza ist der jüngste unter den dreien und wohl der letzte große amerikanische Arrangeur, danach dürfen wir den Beruf wohl definitiv als ausgestorben betrachten, denn es gibt keinen Bedarf und auch keine Mittel mehr dafür. Auch wenn Europa da ein wenig anders tickt und es tatsächlich noch fünf staatliche Big Bands gibt (ich persönlich war allerdings nie ein Fan von beamteten Jazzmusikern), davon vier in Deutschland (WDR-, hr-, NDR- und SWR-Big Band) sowie das Metropole Orkest in Holland. Für diese hat Mendoza viel geschrieben, sieben Alben mit dem Metropole Orkest, eines davon mit Al Jarreau und Elvis Costello, sowie drei mit der WDR- Big Band. Weiters hat er u.a. an Alben mit Björk, Melody Gardot, Yellowjackets oder Al Di Meola mitgewirkt. Ich selber war nie ein besonderer Fan von Vince Mendoza, aber auf diesem Album ist er über sich hinausgewachsen: Perfekte Instrumentation, unglaubliche Einleitungen, großartige Hornstellen, perfektes Einbeziehen der Solisten, u.a. Wayne Shorters Sopransaxophon. Fast so, als ob alles davor nur Übungen für dieses eine, große Album gewesen wären. In dem Joni Mitchell ebenfalls zur Bestform aufläuft und es sogar schafft, in You’re My Thrill und You’ve Changed nicht nur sehr gekonnt Anleihen an Billie Holiday zu nehmen – was ja normalerweise immer schief läuft – sondern auch sonst all ihre Erfahrungen und ihr ganzes Know-How (sie hatte 1976 u.a. das Album Heijra mit Jaco Pastorious aufgenommen) zu einem sinnlichen Ganzen zu vereinigen, das tief unter die Haut geht und sie zu einer absoluten Ausnahmeerscheinung mit dem größten Format unter sämtlichen weißen Singer-Songwriterinnen, Pop-, Rock-, Folk- und sonstigen Gagasängerinnen macht.
Im Player: You’re My Thrill, At Last, You’ve Changed.
Und für die nicht so Gesangsaffinen gäbe es zwei wunderbare instrumentale Alben mit Streichorchester von Clifford Brown (Arrangements Neal Hefti) und Charlie Parker (Arrangements Joe Lipman).
Im Player: What's New mit Clifford Brown und Laura mit Charlie Parker.
Und wem das alles zu schwülstig, zu kitschig, zu monumental ist, oder wer Arrangeure hasst, dem lege ich Ballads von John Coltrane ans Herz. Schlicht, ergreifend und genial!
Im Player: Too Young to Go Steady
mathias rüegg
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