Blog 1.12.
Andy Scherrer (1946 – 26.11.2019)
Eine große Stimme des europäischen Jazz ist verstummt.
Ein subjektiver Nachruf.
Wenn ich mich richtig erinnere war es 1972, als ich von Schiers nach Zürich „getrampt“ bin, um mir ein Konzert der Schweizer Jazzformation Magog anzuhören, auf deren Pianisten Klaus König und Saxophonisten Andy Scherrer ich neugierig war. Nach dem eindrucksvollen Konzert hatte ich mich aber nicht getraut, einen der beiden anzusprechen und mich dann auf die Suche nach einem Schlafplatz gemacht, den ich in einem Park fand. Für ein Hotel hatte mein Budget nicht mehr gereicht!
Ziemlich genau zwanzig Jahre später fand ich mich mit dem genannten Andy Scherrer in Zürich auf einer Bühne wieder, anlässlich einer von der Migros initiierten Tournee mit dem Swiss Art Orchestra, bei dem u.a. Corin Curschellas, Matthieu Michel, Claudio Pontiggia, Danilo Moccia, Roman Schwaller, Heiri Känzig, Joris Dudli, Hans Kennel, Hans Hassler dabei waren.
Andy und Matthieu blieben bis zur Auflösung der Big Band-Formation des Vienna Art Orchestra bei uns/mir. Insgesamt neunzehn Tonträger zeugen von dieser künstlerischen Zusammenarbeit, die meisten Stücke habe ich versucht, vor allem Andy direkt auf den Leib zu schneidern. Es war fast unmöglich, sich nicht sofort in seinen unglaublich voluminösen, von seinen Vorbildern Joe Henderson, Wayne Shorter & Clifford Jordan inspirierten Klang, der alle möglichen und unmöglichen Schattierungen abdecken konnte und in das expressive und immer auch kunstvolle Spiel von Andy zu verlieben. Zusätzlich war Andy ein echter Gentleman, ein „Sir“. Immer freundlich, hilfsbereit, sich vornehm zurückhaltend. Ein Musiker ohne Egoprobleme, jedoch mit seinem Spiel nie ganz zufrieden, immer bereit sich weiterzuentwickeln und Neues zu lernen. Die von mir für ihn komponierten Kompositionen oder Arrangements waren meist harmonische Herausforderungen, wobei es großen Spaß machte, sich mit ihm über die Charts und allfällige harmonische Umdeutungen zu unterhalten. Zumal Andy im „Nebenfach“ ja auch noch ein gewiefter Pianist, sprich sowieso mit allen Wassern gewaschen war. Und sich immer sehr gewissenhaft vorbereitet (Harry Sokal hatte das auch immer getan) und sogar die ihm verhassten Satzstellen auf dem Sopransaxophon bis zur Perfektion geübt hatte. Auf den über dreißig Tourneen hatten wir viel Zeit zum Plaudern, wobei Feinschmecker Scherrer Italien geliebt und Amerika sowie Überseeflüge gehasst hat. Über sich selber redete er ungern und gab nur wenig von sich preis. Jedenfalls war Andy heuer (2019) für den hochdotierten, aber äußerst eigenartigen Schweizer Musikpreis nominiert, den zwei Programmierer gewonnen haben und selbstverständlich nicht der Doyen der Schweizer Jazzmusik. Andy hatte nie zum Zeitgeist der Schweizer (Free)Jazzszene gepasst, dafür war er als Person zu unspektakulär und rhetorisch zu wenig ambitioniert. Dafür war er mit Leib und Seele Sideman, ein Begriff, der heutzutage im besten Fall Ratlosigkeit hervorruft. Es war ein Traum mit ihm zu arbeiten, und die vielen hochkarätigen Musiker im VAO hatten ihn alle äußerst geschätzt. Er war Jazzmusiker im besten Sinne, ein großer Improvisator, der etwas zu erzählen hatte, der einen atemlos machte.
Das Unterrichten hatte ihn nie besonders gefreut, aber es machte ihn finanziell unabhängig. Interessanterweise hatte er im VAO seinen besten Schüler, Roman Schwaller - den zweiten relevanten Schweizer Saxophonisten, der übrigens seit über zehn Jahren in Wien lebt, abgelöst.
Andy jedenfalls hatte das Glück, größtenteils in einer Zeit zu leben, in der Jazz etwas bedeutete, ja sogar noch so etwas wie eine gesellschaftliche Relevanz hatte, bevor er in eine universitäre akademische Starre verfallen ist aus der es nur schwer ein Entrinnen geben wird.
Music Player
Beginnen wir mit Leonardo Da Vinci – Light & Shadows, einem Stück aus European Visionaries aus der Trilogie „3“/2007, das zu einem wahren Parforceritt Andys wird.
Ebenfalls aus derselben Trilogie stammt Jean Harlow meets Leonardo Da Vinci bei dem zwei Themen aufeinandertreffen und Andy quasi zwei Personen darstellen muss. Einmal balladesk-lyrisch, dann wieder expressiv. In der Ballade Katharine Hepburn – La grande Dame (ebenfalls aus der Trologie „3“) spielt Andy sein großes, schier unerschöpfliches melodisches Vokabular aus. Wilder zu und her geht es dann in Hat and Beard von Erik Dolphy (Nine Immortal Evergreens for Erik Dolphy/1997), wo Andy mit geballter Virtuosität und Agressivität brilliert, u.a. von Uli Scherer begleitet, den er so sehr geschätzt hat.
In Art With Heart (Art & Fun/2002) spielt sich Andy acht Minuten lang, teils sehr bluesig, durch die verschiedensten Themen und in Copenhagen’s Mermaid Heart (Artistry In Rhythm/2001) weckt sein Spiel die verschiedensten Sehnsüchte.
In einem von einem Schweizer geleiteten Wiener Orchester stehen natürlich auch Walzer auf dem Programm, so etwa der Marienklänge-Walzer von Josef Strauss (All That Strauss/2000) oder St.Laurent, eine Walzerminiatur meiner Wenigkeit. Wir beide mochten besonders Billy Strayhorn, Andy schenkte mir auch David Hajdus Strayhorn-Biographie Lush Life, natürlich ohne Widmung. Anders hätte es auch nicht zu Andy gepasst. In meinem Arrangement von Warm Valley (Duke Ellington’s Sound of Love) hat sich Andy immer wohl gefühlt. Wobei in vielen Fällen für ihn „epische“ Balladen vorgesehen waren.
Aber der ganze große Moment passierte im Programm The Original Charts of Duke Ellington & Charles Mingus/1994), in dem vor Strayhorns Bearbeitung von Edvard Griegs Anitras Dance aus der Peer Gynt Suite das Licht ausging, Andy nach vor kam und im, auf ihn gerichteten, Scheinwerferkegel wie in einem Film Noir, über die Originalversion der Berliner Philharmoniker unter Karajan – Universal Music hatte sie uns damals zur Verfügung gestellt, ein zweites Meisterwerk, also sein Solo draufsetzte, so dass daraus ein drittes entstanden ist (im Gegensatz zu Arnulf Rainers langweiligen Übermalungen!). Ganz im Sinne des Jazz und der Jazzimprovisation, die – bei wirklich guten Musikern, immer auch Komposition war/ist. All die wunderbaren Arrangements der Jazzgeschichte wären nichts wert ohne die großartigen Solisten, die sie erst so richtig zum Leben erwecken! Jedenfalls konnte ich Musiker live nie wieder so aufmerksam beim Zuhören erleben wie während dieses Solos.
Andy wird seinen Stellenwert, der ihm gebührt, schon noch bekommen. Rückblickend wird dann meist plötzlich alles klar und die Spreu trennt sich vom Weizen.
Lieber Andy, ich habe Dir vor drei Tage vor Deinem Ableben noch eine aufmunternde Mail geschrieben, aber die hat Dich wohl nicht mehr erreicht. Sie war zu oberflächlich angesichts Deines Todes. Vielleicht haben wir uns beim „Rauchen um jeden Preis“ doch geirrt.
Du hast ein erfülltes Leben gelebt! Und Dein Spiel wird noch lange nachklingen.
Ruhe in Frieden!
mathias
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