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30.04. 2020 - International Jazz Day
 

Vor genau hundert Jahren begann das Jazz Age in den USA im Schatten der Prohibition und schwappte auf Europa, vor allem nach Paris über, wo sich die Elite der klassischen Komponisten wie Strawinsky, Milhaud oder Erik Satie mit dem Jazz auseinandersetzte. Es war ein Jahrzehnt voller Lebensfreude und Überschwang, alles drehte sich um den Jazz, seine Tanz- und damit verbundenen Lebensformen. Jazz war Leben, Unterhaltung, Abenteuer, Hoffnung und Zukunft. Und im Gegensatz zu den USA erfuhren die schwarzen Musiker in Europa kaum Diskriminierung. Doch die ganz grosse Stunde sollte erst noch kommen. Nachdem die Amerikaner Europa von dem grössenwahnsinnigen Diktator A.H., der für unermessliches Leid verantwortlich war, befreit hatte, feierte der Jazz (vor allem der Swing) als Musik der Befreier einen Siegeszug rund um die Welt, in einer Form, die es vorher nicht und nachher nie mehr gegeben hatte. Jazz war omnipräsent, im Alltag, in der Freizeit, im Film, im Radio und im Fernsehen. Doch er vermischte sich zusehends mit der kommerziellen (weissen) Unterhaltungsmusik, so dass sich die schwarze Avantgarde um Thelonious Monk, Charlie Parker oder Dizzy Gillespie veranlasst sah, dagegen aufzubegehren. In dem sie, vereinfacht gesagt, alles doppelt so schnell spielten, und so den Swing auf eine neue virtuose Stufe, den BeBop hoben und daraus eine anspruchsvolle Kunstmusik machten. Die wurde zur Lieblingsmusik der Intellektuellen & Existentialisten (vor allem) in Europa, während sich in den USA die schwarze Zuhörerschaft vom Jazz verabschiedete. Die Diskriminierung der Schwarzen erreichte in den USA einen neuen Höhepunkt mit der Ermordung Martin Luther Kings am 4.4.1968 in Tennessee.

Daraus entstand das Civil Rights Movement, und der damit verbundene Zorn der Schwarzen entlud sich unter anderem auch im Freejazz, der dann als unfaßbares Missverständnis nach Europa überschwappte – wobei ich den europäischen Jazz tendenziell eher für ein Miss- als für ein Verständnis halte – und hier dem Jazz schrittweise den Boden unter den Füßen entzog. Aber vorher sollte noch ein anderes wichtiges Ereignis passieren. Am 30. Juli 1954 (da war ich gerade zwei Jahre alt) gab ein gewisser Elvis Presley sein erstes Konzert und leitete damit nicht nur das Ende des Jazz, sondern auch das Ende jeder ernstzunehmender Musik – in einer Gesellschaft, die sich nach seinem Vorbild immer mehr zu infantilisieren begann, ein.

Aber Mitte der 70er bis zum Ende der 80er Jahre gab es nochmals ein letztes Aufbäumen unter der Regie von Superstar Miles Davis, der den Jazz mit der Rockmusik fusionierte und ihm zusammen mit Weather Report, Chick Corea, John McLaughlin oder Herbie Hancock zum letzten Mal in der Geschichte ein grosses Forum bot.

Ich hatte das Glück live dabei sein zu dürfen, und ja, der Jazz hatte damals tatsächlich noch so etwas wie eine gesellschaftliche Relevanz. Die, die sich heute in Clubs zudröhnen, gingen damals zu Jazzkonzerten, setzten sich mit der Musik auseinander und waren stolz darauf. Nur so nebenbei: Warum klinge ich eigentlich gerade so furchtbar altvatrisch und belehrend? Habe doch früher auch immer gekifft, well... :-) Der Jazz war lebendig, gerade noch nicht akademisiert, er war noch Beruf, Berufung. Tradition und Avantgarde waren zu gleichen Teilen gleichzeitig vertreten, praktisch alle grossen Musiker lebten noch. So etwa hörte ich Duke Ellington 1974 in Graz, oder wir spielten an großen Festivals auf derselben Bühne wie Ray Charles, James Brown oder Miles Davis.

Die Grabenkämpfe zwischen Tradition und Avantgarde, sprich rechts und links, waren rückblickend gesehen völlig unnötig und sinnlos. Denn praktisch alle (schwarzen) Jazzmusiker, auch die weniger bekannten wie z.B. Ray Bryant, Jaki Byard oder Randy Weston – um stellvertretend drei Pianisten zu nennen, waren alle innovativ, unverwechselbar und mit einem eigenen Vokabular ausgestattet. Was man in der Hochblüte des Kalten Jazzkrieges so nicht wahrnehmen wollte. Und dieser Kalte Jazzkrieg ist dann in den 80ern mit Wynton Marsalis erneut aufgeflammt. Aber da war der Jazz schon dabei zu verblassen. Den endgültigen Todesstoß bekam er dann einerseits durch die elektronische “””Musik””” in den 90er Jahren, andererseits durch die kostenlose Verfügbarkeit der Musik ab 2008. Doch das Verschwinden aus dem öffentlichen Raum – Jazz kommt praktisch nirgends mehr vor – weder in Lokalen noch auf Bühnen, noch im Film, noch in Serien oder in Büchern, wurde durch eine beispiellose Akademisierung mit bestenfalls Streber-Charme ersetzt. Dafür weiß unterdessen fast niemand mehr, was Jazz ist, Hören war gestern. Das betrifft Kritiker gleichermassen wie Veranstalter oder öffentliche musikfördernde Stellen. Der Jazz muss praktisch alles tun, damit er innovativ ist, nur nach “Jazz” darf er ja nie klingen, denn der war gestern, patriarchalisch und genderunadäquat.

Aber der klassischen Musik würde es auch nicht viel besser gehen – die ist ebenfalls schon längstens auf dem absteigenden Ast, gäbe es nicht die Noten von einer Vielzahl von Genies, die laufend, von jeder Generation zu neuem Leben erweckt werden. Das geht mit dem Jazz aber leider nicht. Und das ist wohl sein Todesurteil. Stellen Sie sich vor, Sie würden Bach und Beethoven immer nur improvisiert aus dritter Hand und nie im Original hören! Es sei denn in Ausnahmefällen, wie der Slowake Ladislaw Fantzowitz einen darstellt, der u.a. einen ganzen Abend lang quasi nebenbei Fats Waller – Begleitungen original aus seinen Transkriptionen spielt! Da habe ich Fats Waller übrigens zum ersten Mal verstanden und lieben gelernt! In derselben Band spielt er auch Saxophon, schreibt die Arrangements und spielt auch ein unglaubliches improvisiertes Stridepiano. Im Hauptberuf ist er aber klassischer Pianist (Tradition wie Moderne!) UND Saxophonist! Er hat vor kurzem in einem Doppelkonzert je ein klassisches Stück für Klavier und Saxophon (mit Orchester) uraufgeführt. Dabei vermittelt er immer gleichzeitig etwas Existentielles und Leichtes. Solche Musiker bräuchten wir heutzutage! Überhaupt gibt es eine Reihe von slowakischen Supercracks, die Schweizer haben mittlerweile auch welche, aber nur im Eishockey!

Und falls Sie jemandem erklären wollen, was Jazz ist und was nicht, dann hätte ich hier eine kleine Anleitung: Jazz ist wie eine Fremdsprache, die aus Vokabular, Aussprache, Grammatik, Orthographie, Interpunktion und Syntax besteht, die man lesen, sprechen und verstehen können muss, bevor man sinnvolle Literatur schreiben kann. Genauso ist es mit dem Jazz; erst wenn man sich mit der spezifischen Rhythmik und Phrasierung, der Harmonik und Melodik, der instrumentalen Technik, der Literatur und in Folge mit seinem eigenen Sound und seiner eigenen Vorstellung auseinandergesetzt hat, dann ist es Jazz. Sonst ist es irgendetwas (Anderes).

Oder wie es Alfred Lion, der Gründer von Blue Note, auf den Punkt gebracht hatte: “it must schwing!”

Doch ganz zum Schluss gibt es da noch ein kleines Lichtlein – das die Lebensfreude des Jazz, hauptsächlich durch junge zeitgeistunversehrte Tänzer, ins Hier und Jetzt transportiert. Es nennt sich Lindy Hop und ist mittlerweile in fast in jeder Stadt auf dieser Welt zu finden.

Aber: über allem thront und strahlt das Genie Keith Jarrett als letze große Jazzikone!

Gehen Sie äusserst sorgsam mit ihm um und lieben Sie alles, was er je gespielt hat oder je spielen wird!

Happy Jazz Day!

 

Wien, 30.4.2020

mathias rüegg

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