Uli Scherer, 26.3. 1953 - 28.11. 2018
Der österreichische Pianist und Komponist (geb. am 26.März 1953 in Villach) ist am 28. November im Hanuschkrankenhaus in Wien friedlich eingeschlafen.
Unsere Wege kreuzten sich zwischen 1978 bis 1998 intensiv, davon sprechen u.a. neunundzwanzig Tonträger mit dem Vienna Art Orchestra und Ernst Jandl, die wir zusammen aufgenommen hatten. Manche Projekte wie Fe & Males hatten wir auch gemeinsam konzipiert. Uli war für mich ein Quell großer Inspiration, ein Vorbild in allen künstlerischen Bereichen. Er war der intelligenteste, gebildetste, belesenste unter den Jazzmusikern, nicht nur in Österreich; dazu mit einem hervorragenden Gedächtnis ausgestattet. Mit seinem Verstand, seiner räumlichen Vorstellung und seiner ungeheuren Musikalität, konnte er es sich leisten, alle seine Kompositionen im Kopf, also ohne Instrument niederzuschreiben und geübt hatte er auch hauptsächlich - wenn überhaupt, dann mental, also bloß in der Vorstellung. Das war ausreichend! Darüber hinaus war er ein Meister im Erfinden von brillianten Konzepten, die Realisierungen hingegen interessierten ihn weniger. Es reichte ihm, seine Projekte in der Phantasie oder auf dem Papier zu sehen. Er konnte auch hervorragende Texte schreiben und ebenso gut zeichnen, wobei seine Partituren graphische Juwelen sind. Als Linkshänder, der auch fließend Spiegelschrift schreiben konnte, hatte er eine gnadenlose Rhythmik und Time, um nicht zu sagen, die besten von allen Musikern, die je im Art Orchester mitgespielt haben. Und da waren diesbezüglich einige Supercracks dabei! Als Uli 1998 aus gesundheitlichen Gründen das Orchester verließ, habe ich das Klavier durch Gitarre ersetzt. Uli war für mich der einzige nicht ersetzbare Musiker in meiner gesamten Karriere.
Seine musikalischen Inspirationen holte er sich vor allem von Oliver Messiaen, dessen serielle symmetrische Reihen er sich zu Eigen gemacht hatte. Sein zweiter großer Einfluss war der amerikanische Jazzpianist Richie Beirach, den er sehr verehrte. Neben Ulis ausgefuchsten Kompositionen und nach seinen eher freieren Phasen, hatte er als Unterrichtender auch begonnen, sich intensiv mit dem Great American Song Book zu beschäftigen. Eines seiner Paradelieder ist Somewhere Over The Rainbow. Es gibt gleich drei Versionen davon, einmal mit Matthieu Michel im Duo , eine mit Wolfgang Puschnig, der zeitlebens musikalisch treu an seiner Seite war & Linda Sharrock im Trio und schließlich eine dritte mit der jung verstorbenen Sängerin Monika Trotz und Streichorchester in einem Arrangement von mir über seine Klavierversion. Alle drei Versionen zum Vergleichen im zweiten Player unten.
Ein anderes Scherer-Arrangement ist der Ragtime (1918) von Igor Strawinsky, ebenfalls genial umgesetzt. Schließlich sind die ersten Jahrzehnte in der Pariser Kunst- und Musikszene Ulis absolutes Spezialgebiet, vor allem der Dadaismus und der Surrealismus hatten es ihm angetan. Davon zeugt eine Riesenbibliothek, mehr als außergewöhnlich für einen Jazzmusiker, wobei Uli eben wesentlich mehr war als das. Davon zeugen auch seine vielen Konzeptbücher und Zeichnungen, die es alle noch aufzuarbeiten gilt.
Leider gibt es nur wenige orchestrale Stücke von Uli, aber jedes von ihnen eröffnet einen eigenen Welt. Es lohnt sich , diese fünf Stücke im ersten Player genauer anzuhören. Aus seinem umfangreichen Ouevre, sei als Improvisator und/oder Komponist - er ist auf weit über fünfzig Tonträger zu hören, stechen für mich die zwei Duoalben Okipik und The Sadness of Youki mit Matthieu Michel , im dritten Palyer zu hören, heraus. Das ist große, integre Musik von zwei "auf höchstem Niveau!
Uli, stets selbstbewusst-zeitkritisch und dabei immer bescheiden-genügsam, hatte sich als Vertreter der Ästhetik der Verweigerung in seiner ganzen Karriere nie musikalisch verirrt, er ist sich immer treu geblieben. Es gib keinen irgendwie gearteten Trash nichts Anbiederndes und nichts Billiges von ihm. Alles, was er hinterlässt, ist beseelt von seinem inneren Ausdruck und von seiner künstlerischen Vision! Und daneben war in seinem Leben jede Menge Platz für intelligente Ironie und gute Geschichten, die er auch wunderbar erzählen konnte. Jedenfalls freue ich mich darauf, was in seinem Nachlass noch alles zum Vorschein kommen wird, und ich werde für Uli, wie mit ihm abgesprochen, eine Homepage gestalten und betreiben.
Besonders traurig finde ich die Tatsache, dass es erstens kein Klavier-Trioalbum und zweitens keine klassischen Orchesterstücke von Uli gibt. Vor allem Letzteres hätte nicht passieren dürfen! Und wie auch immer der Zeitgeist weht, Uli Scherer war/ist ein ganz grosser österreichischer Musiker. Das wird sich in Zukunft weisen. Davon bin ich zutiefst überzeugt. Denn Qualität siegt am Schluss immer!
Wien, 1.12.2018
mathias rüegg
ps 1: In meiner Laudatio von 1997, die ich anlässlich der Verleihung des Villacher Kulturpreises an Uli Scherer gehalten hatte, findet man vieles mehr über Uli.
Und hier noch mein Text zu seinem Begräbnis am 14.12.
Liebe Trauerfamilie, liebe Angehörige und liebe Freunde von Uli Scherer und seiner Musik.
Episode 1 - Wie alles begann
Im Alter von vier Jahren zieht Uli mit einer Mundharmonika und einer umgehängten Trommel – dank eines ausgeklügelten Systems kann er beide Instrumente gleichzeitig bedienen, von Tür zu Tür und gibt seine Künste zum Besten. In der Hoffnung, er werde sich damit den notwendigen Schilling verdienen, den er unbedingt zum Kauf einer langersehnten Wundertüte benötigt. Enttäuscht gibt er nach einer Woche auf, da er es nur zum Besitzer zahlreicher Zehngroschenstücke gebracht hat. Dass diese zusammen den Wert mehrerer Schillinge ergeben, kann er in seinem Alter noch nicht wissen. Jedenfalls ist seine Kindergartentante Ella so begeistert, dass sie ihn spontan ins Rathaus mitnimmt, wo er dem damaligen Bürgermeister erfolgreich ein Ständchen spielt. Das war der nicht alltägliche Beginn einer Musikerlaufbahn.
Episode 2 – Die fruchtbare Produktion
Uli hatte mir des Öfteren, vor allem nach meiner Revue Sens 1987 vorgeworfen, dass meine Ideen/Konzepte und auch die Musik zu abstrakt, zu unkonkret und zu wenig greifbar seien, und ich musste ihm teilweise Recht geben. Kurz darauf gab er mir als Anregung ein Buch des persischen mittelalterlichen Dichters Nizami (1141-1209) mit dem Titel Die Geschichten der sieben Prinzessinnen, in denen sieben Prinzessinnen in einem Schloss mit sieben Türmen wohnen und jedem davon ist eine Farbe, ein Klang und ein Geruch zugeordnet und jede der sieben Prinzessinnen erlebt eine archetypische Liebesgeschichte. Dieses Buch inspirierte mich dazu, ein Doppelorchester auf die Bühne zu stellen, also zwei idente Septette (mit Trompete, Saxophon, Posaune, Tuba, Klavier, Bass und Schlagzeug), einmal weiblich und einmal männlich besetzt. Auf einer streng symmetrischen Bühne, die Männer zuerst rechts und die Frauen links, beginnen sich die Musiker und Musikerinnen in den sieben Stücken, deren Titel nach den Farben der jeweiligen Geschichten benannt sind, von der einen auf die andere Seite hin immer mehr zu vermischen, bis sich beim Schlussstück die beiden Septette spiegelverkehrt gegenüber stehen, also die Männer links und die Frauen rechts. So etwas hatte es wohl bis anhin in der Machojazzwelt noch nicht gegeben, und es war besonders spannend zu erleben, wie sich die sieben Männer und Frauen einander musikalisch und außermusikalisch genähert haben, und was sich dabei so alles ergeben und verändert hat. Auf der ersten Tournee war auch Catherines und Ulis Tochter Philine in einer Babytragtasche, die es übrigens so heute nicht mehr gibt, mit. Catherine war für die Projektionen, die Uli so sehr geschätzt hatte, verantwortlich. Und nachdem sich dieses junge Wesen, also Philine, äußerst brav und ruhig verhalten hatte, war das für alle Beteiligten samt deren Anhang so eine Art Initialzündung. Was die können, können wir auch! Ein knappes Jahr später fuhr bereits meine Tochter Naima, ebenfalls in einer Babytragtasche mit, und innerhalb weniger Jahre entstanden im Umfeld dieser Produktion Fe And Males sieben Kinder. Spätestens jetzt hatte ich verstanden, was Uli mit zu wenig konkret und greifbar gemeint hatte. Danach habe ich vieles anders und wohl auch besser gemacht.
Episode 3 – Meine schönste Nacht mit Uli
Uli und ich hatten auf den vielen und langen Art Orchester-Tourneen viel Zeit zusammen verbracht, insgesamt dauerte unsere Zusammenarbeit ziemlich genau 20 Jahre, und als wir im Herbst 1987 nach einem Konzert im Kunsthaus Mürzzuschlag wieder einmal in einer Bar jeder Vernunft (der Ausdruck stammt von ihm) diskutierend hängengeblieben sind – sich kreativ zu ärgern machte uns immer großen Spaß und Ulis Lieblingsfrage im jeweils in der Früh abfahrenden Zug war meist: „Und worüber könnten wir uns denn heute ärgern?“ - gab es trotz mehrmaliger Versuche keinen Einlass mehr in unsere triste Pension, in der wir untergebracht waren, und so verbrachten wir die Nacht im Wartesaal des Bahnhofes Mürzzuschlag, wo wir wohl, wie so oft, intellektuellem Blödsinn gefrönt haben dürften, schließlich waren wir beide glühende Verehrer von Jean Cocteau, Erik Satie, Gertrude Stein, John Cage oder Ernst Jandl. Ein plötzlich aus dem Nichts auftauchender Nachwächter mit einem dramatischen Gang, einer Gestik wie John Wayne und dem tiefsten Mürztaler Dialekt schreckte uns um vier in der Früh auf, um uns zu „retten“, doch auch ihm gelang es nicht, die Haustüre der besagten Pension, die übrigens gleich in der Nähe des Bahnhofes war, zu öffnen.
Jedenfalls fuhr Uli am nächsten Tag zu irgendeinem Konzert, und ich zurück nach Wien, aber nicht ohne vorher mit einer linkischen Jungmädchenschrift noch eine Postkarte an Uli nach Baden in der Schweiz geschickt zu haben, in dem ich mich als Mathilde für die unglaublichste Nacht meines Lebens in Mürzzuschlag bedankte. Der Zufall hatte so Regie geführt, dass die Karte just am morgen des selben Tages wie Uli bei seiner geliebten Antonia ankam, die er in der Küche als ein Häufchen Elend vor einer halbleeren Whiskeyflasche mit meiner Postkarte daneben vorfand. Nachdem sich der Irrtum aufgeklärt hatte, wurde dann wieder alles gut und wir konnten noch jahrelang darüber schmunzeln.
Episode 4 - Die Reise nach innen
Es gibt einen wunderbaren Roman des Spaniers Carlos Ruiz Zafón (1964), in dem die Bibliothek der vergessenen Bücher eine Hauptrolle spielt. Und auch in Ulis Leben hat eine Bibliothek ein große Rolle gespielt, nämlich seine eigene, von der er einmal gesagt hat: „ Diese selbstdenkende Bibliothek“ – die Bücher sind so ausgesucht und angeordnet, dass die jeweiligen Protagonisten mit einander und mit ihrem Umfeld kommunizieren können, „ ist meine Erfindung“. Was für ein schöner Gedanke! Ursprünglich hatte Uli Geld für eine Weltreise mit seiner Antonia geplant. Als sich das dann aber nicht realisieren ließ, beschloss er stattdessen, das Geld für Bücher auszugeben und statt nach außen, nach innen zu reisen. Eine ganz zentrale Rolle in seiner Bibliothek, die ca. viertausend Bände umfassen dürfte – vermutlich eine der weltweit größten Sammlungen eines Jazzmusikers, spielen der Dadaismus, der mit dreihundertfünfundachtzig Bänden vertreten ist, davon vierundvierzig von und über Kurt Schwitters (natürlich inklusive der literarischen Gesamtausgaben) und der Surrealismus mit dreihundertfünfzehn Bänden, - davon gibt es von und über Marcel Duchamp hundertelf Exponate. Es sind diese zwei experimentellen Kunstrichtungen des frühen 20. Jahrhunderts, der Dadaismus und der Surrealismus, die Realitäten, Sichtweisen und Erwartungshaltungen auf eine sehr spielerisch und kreative Art und Weise täuschen, verfremden, brechen, verändern und damit Neues schaffen. Und genau so war die Musik von Uli. Immer in Wandlung begriffen, schwebend, sich mal dahin, dann wieder dorthin verlagernd, verändernd, voller Überraschungen und nie den Erwartungen entsprechend, sondern immer dem eigenen Vokabular und der eigenen Dramaturgie folgend. Und ähnlich gelagert war auch seine Persönlichkeit: nie ganz greifbar, schwebend, anwesend und gleichzeitig abwesend, spielerisch verspielt, verträumt und sich immer wieder versteckend im Nirgendwo, alles kritisch prüfend und infrage stellend, sämtliche mentalen Grenzen auslotend und am Schluss doch immer verschmitzt, versöhnlich lächelnd.
Diese zum Teil äußerst raren und kostbaren Exponate - viele davon Erstausgaben, die ihm verschiedenste Antiquariate zur Seite gelegt hatten, sind das Prunkstück seiner Hauptbibliothek, die er in insgesamt hundertvier Kategorien unterteilt und seiner ebenfalls literaturinteressierten Tochter Philine vermacht hat, die sich um diesen wunderbaren Nachlass entsprechend kümmern wird.
Epilog
Dank Ulis Frau Elke, die sich rührend um ihn gekümmert hat, konnte ich Uli bei einem meiner Besuche kurz vor seinem Tod zum Glück noch sagen, dass ich ihn für den besten, intelligentesten und gebildetsten Musiker halte, mit dem ich je im Leben zu tun hatte. Uli hatte sich sehr darüber gefreut und seine Augen leuchteten kurz auf wie in alten Zeiten.
Es tut mir mehr als nur leid, dass Ulis heimtückische Alkoholkrankheit im letzten Drittel seines Lebens so Vieles vereitelt und letztlich alles zerstört hat und der traurige Grund für unser heutiges Beisammensein ist.
Ich danke Dir, lieber Uli für eine zwanzig Jahre lang dauernde und noch immer anhaltende Inspiration und für die Veredelung von unseren neunundzwanzig gemeinsamen Tonträgern durch Dein unglaubliches Spiel und Deine wenigen, aber genialen Kompositionen. So long!
ps: Ab Mitte des nächsten Jahres wird es eine Homepage geben, wo man alles von, mit und über Uli finden können wird.
2022
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28.02. Die Bedeutung derJazzmusik in T. C.
Boyle's neuem Roman "Licht"
2018
Uli Scherer, the Composer & Arranger
Uli Scherer plays Somewhere Over The Rainbow
Uli Scherer and Matthieu Michel