7.7. My Favorite Arranger I
Man darf davon ausgehen, dass die meisten Entwicklungen im Jazz schon viel vorher in der Klassik vorweggenommen sind, oder anders gesagt: Der Jazz hat in hundert Jahren ähnliche Entwicklungen wie die Klassik in tausend Jahren durchschritten. Begonnen mit dem einstimmigen gregorianischen Choral um das Jahr Tausend, dem die modalen Field Songs, ab 1880 aufgezeichnet (aber schon seit 200 Jahren davor praktiziert), aus denen sich der frühe Blues entwickelt hatte, gegenüberstehen - bis hin zur Auflösung der meisten gängigen musikalischen Paramater, wie etwa in Leon Orsteins Wild Man’s Dance von 1913 und seinem Pendant im Jazz, Cecil Taylor ca. fünfzig Jahre später.
Eines der Hauptmerkmale des Jazz in seiner Entstehung und Blütezeit war seine Funktion als „Schwamm“, der alles aufgesogen hat, was ihm unterkam. Und so hat der Jazz in allen musikalischen Bereichen „gewildert“ um sich alles zu Eigen zu machen. Wichtig war nicht das „Was“ bzw. “Wer“, sondern das „Wie“. Dadurch entstand einerseits eine neue Figur im Jazz, der Arrangeur, andererseits war praktisch jeder Musiker in dem Moment selber Arrangeur, in dem er sich irgendein fremdes Stück angeeignet und zu dem Seinem gemacht hatte. Mit anderen Worten, Improvisator und Komponist waren in den wenigsten Fällen die gleiche Person – mit den großen Ausnahmen Duke Ellington und später Thelonious Monk
Deswegen war der Jazz in seiner Blütezeit auf so einem hohen Niveau. Ein guter Standard besteht ja nicht nur aus einer guten Melodie sondern eben auch aus einer harmonischen Struktur, die den Spieler zu improvisatorischen Glanztaten „verleiten“ kann. Die wenigsten Musiker sind gute Komponisten, weder in der Klassik noch im Jazz noch im Pop. Der Originalitätszwang „Jeder muss komponieren“ ist ein relativ junges Phänomen, das Schumann so kommentiert hätte: "Du sollst schlechte Kompositionen weder spielen, noch, wenn du nicht dazu gezwungen wirst, sie anhören". Allerdings muss man den großen stilbildenden Jazzmusikern unbedingt zugestehen, dass sie mehr als nur Improvisatoren waren - sie waren jeweils Erfinder von einem eigenen Vokabular, bestehend aus stilbildenden Phrasen, Phrasierungen, Rhythmen und Sounds, die das Repertoire der „Jazzsprache“ entscheidend mitbestimmt und kontinuierlich erweitert hatten!
In der Klassik gab es Ähnliches natürlich auch, aber als „Meisterarrangeur“ muss wohl Franz Liszt angesehen werden. Er führte 1830 die Bezeichnung Transkription für Klavierübertragungen ein, die „zwischen einer mehr oder minder strengen Bearbeitung und einer freien ‚Fantasie‘ stehen“. “Er legte sich seine Transkriptionen im Sinne der Romantik virtuos zurecht. Transkriptionen sind im Schaffen Liszts eine eigene Werkgruppe, wobei er hier zwischen Bearbeitungen, Fantasien, Reminiszenzen; Illustrationen, Paraphrasen, Klavierauszügen und Transkriptionen unterscheidet. So übertrug er Orgelwerke von Bach, die neun Symphonien von Beethoven, Lieder von Beethoven, Schubert, Mendelssohn-Bartholdy usw. und Opernmelodien von Auber, Bellini, Donizetti, Mozart, Verdi, Wagner usw. für das Klavier ” (Zitat Wikipedia). U.a. bearbeitete Liszt allein fünfundfünfzig Lieder von Franz Schubert, davon zwölf aus der Winterreise.
Gute Nacht, das erste Lied im Original, mit meinen Lieblingen Daniel Behle und Oliver Schnyder. Und hier in der Bearbeitung, die sich gegen das Ende hin ziemlich weit weg bewegt, mit Valentina Lisitsa.
Das vierte, virtuose Lied Erstarrung mit Ian Bostridge, dem Autor des unglaublich spannenden und gut recherchierten Buch „Schuberts Winterreise – Lieder von Liebe und Schmerz“, gefolgt von Liszts ebenso virtuosen Bearbeitung mit Naum Shtarkman.
Dem Leiermann, dem letzten Lied im Schubert’schen Zyklus, hier mit Quasthoff & Barenboim, folgt die Bearbeitung mit Els Biesemanns am Fortepiano von 1835, wobei die Bearbeitung sehr nahe am Original bleibt.
Und nach dieser vielleicht nicht ganz zu erwarteten Intro nun zu meinem Lieblingsarrangeur Gil Evans*, der nur ganz wenige Stücke komponiert, aber unendlich viele arrangiert hat, in einem Sound, den es bis dahin noch nicht gegeben hatte. Klangmagier Gil Evans hat in fast allem, was er gemacht hat, eine substantielle, sogar spirituelle Tiefe erreicht und hat nebenbei das Orchestrieren im Jazz nach Duke Ellington praktisch neu erfunden, unter Hinzunahme von Tuba, Horn, Oboe, Fagott, Altflöte und vielem mehr. Und er hatte wohl als erster Konzeptalben mit neu arrangierter Klassik gemacht, davon zwei wegweisende, beide mit Miles Davis: Porgy & Bess und Scetches of Spain.
Aus Gerswins genialer Oper Porgy & Bess, die nach wie vor nur von schwarzen Darstellern aufgeführt werden darf, zuerst Summertime im Original mit Leontyne Price (als ich anfangs der 70erJahre das Orginal das erste Mal gehört hatte – ich war noch im Janis Joplin-Modus, kapierte ich rein gar nichts!) und dann in der Bearbeitung von Gil, mit Miles Davis als kaum improvisierendem, immer gekonnt das Thema varierendem, äusserst “coolem” Solisten. Und hier gibt es einen Blick auf die Originalskizze des Meisters vom Augst 1960.
In Sketches of Spain, das zwischen November 1959 und März 1960 aufgenommen wurde, arrangiert Gil den 2. Satz, das Adagio des Concierto de Aranjuez von Joaquín Rodrigo (1901-1999) - hier mit Paco de Lucía, ebenfalls für Miles Davis. Eine der berührendsten Aufnahmen der Jazzgeschichte, mit dem ewig sehnsüchtigen, bzw, süchtig machenden Ton von Miles über den Evanschen Farblandschaften, immer wieder in spannende Rhythmik getaucht. Allerdings auch ein gestandenes Original!
Einer der frühen Ragtimepianisten war Jelly Roll Morton, dessen King Porter Stomp von Gil auf dem Album New Wine Old Bottle von 1958 mit Cannonball Adderley als Solisten sehr rhythmisch, immer wieder mit taktweisen Ragtimeeinschüben, umgesetzt wird. Besonders elegant die Bläsersection von 1:23 bis 2:27 ohne einen einzigen mitphrasierten Akzent von Drummer Philly Joe Jones.
My Ship ist ein populärer Song des Great American Song Book, der vom emigrierten Kurt Weill und George's Bruder, Ira Gershwin für das 1941 uraufgeführte Broadway Musical Lady in the Dark geschrieben wurde. Anne Sofie von Otter in einer originalen Version (so schön waren damals Musicals, als es noch richtige Komponisten gab..:-)) sowie die Bearbeitung für Miles Davis mit seinem unvergleichlichen Flügelhornsound, erschienen 1957 auf Miles Ahead. Das Lineup besteht aus fünf Trompeten, vier Posaunen und drei Waldhörnern, Tuba, einem Holzsatz mit Lee Konitz und drei Klarinetten sowie Paul Chambers, Winton Kelly und Art Taylor. Welch unglaubliche Farben Gil dieser Besetzung entlockt!
Quiet Nights wurde 1964 als Nebenprodukt von Sketches of Spain eingespielt, mit dem niemand glücklich war, wobei ich dieses Album immer besonders geliebt habe. Zuerst das wunderbare Corcovado von Antônio Carlos Jobim mit Astrud Gilberto & Stan Getz im Original und dann die Gil Evans-Version mit dem wunderbar zerbrechlichen Sound von Miles, wobei neben Steve Lacy am Sopransaxophon auch Tuba, Fagott und Horn, samt Elvin Jones an der Percussion, zum Einsatz kommen.
Und schließlich war Gil Evans auch bei vier Vokalalben, zwei mit Helen Merrill** und je eines mit Astrud Gilberto und Sting dabei. Dream of You/Helen Merrill ist ein wunderbares, nie kitschiges, tiefgründiges Album aus dem Jahr 1957, u.a. mit Art Farmer, Hank Jones und Oscar Pettiford. Ich habe das ergreifende Stück I'm a Fool to Want You (siehe auch Billie Holiday’s Version) aus dem Jahr 1951 auch deswegen ausgewählt, weil Frank Sinatra (wohl einmalig!) einen Teil der Lyrics beigesteuert hat. Hier eine „Originalversion“ (bei Standards immer etwas relativ) von Sinatra und hier die Interpretation von Gil und Helen.
Der ewig bescheidene und entrückte Arrangeur, der nur ein paar wenige Kompositionen geschrieben hatte, hat die Jazzmusik um eine, bis dahin unbekannte und später auch kaum mehr wiederkehrende, lyrische Dimension und Tiefe, mit Ausnahme von John Coltrane ,erweitert.
Ich lege jetzt ein Sommerpause ein, den nächsten Blog gibt es wieder am 1.September.
Schönen Sommer wünscht,
mathias rüegg
* den ich übrigens in den 80er Jahren auch persönlich kennen lernen durfte
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