Blog - übersLeben
17.2.2021 Verwobenes Leben
Dank meines Vaters lernte ich bereits als Kind auf zahllosen Wanderungen die bei uns wachsenden Speise- und Giftpilze kennen und unterscheiden. Später stellte ich dann mit Erstaunen fest, dass sich mein damaliger Lieblingsavantgardemusiker John Cage offensichtlich sehr für Pilze und deren Wirkungen interessiert und dass nach ihm sogar ein Pilz benannt ist, der Cortinarius cagei, mit deutschen Namen Zweifarbiger Wasserkopf. Aber damals wusste ich noch nichts vom geheimen Leben der Pilze, dem Marlin Sheldrake in seinem Buch Verwobenes Leben auf den Grund zu gehen versucht und dabei den Leser mit einer unglaublichen Fülle von spannenden Informationen versorgt.
So konnten die Pflanzen vor 500 Mio. Jahren den Übergang ans Land nur deshalb schaffen, weil ihnen die Pilze ihre (noch) nicht vorhandenen Wurzeln über Millionen von Jahren ersetzten, bevor die Evolution sie dann mit eigenen ausstattete. Heute sind mehr als 90% aller Pflanzen auf Mykorrhiza, ein System, in dem Pilze die Bäume zu einem gemeinsamen Netzwerk Wood Wide Web verbinden, angewiesen.
Wenn wir von Pilzen reden, dann sind die sichtbaren Pilze nur die Fruchtkörper von Pilzen, also der Ort, wo Sporen produziert werden, die der Verbreitung dienen. Aber die meisten aller Pilzarten produzieren Sporen ohne sichtbare Pilze. Sie legen unterirdische Netzwerke aus vielen Zellen, den sog. Hyphen an und verflechten sich zum sogannten Mycel, der meistverbreiteten Lebensform der Pilze, von denen es zwischen 2,2 und 3,8 Mio verschieden Arten gibt.
Ein ganz besonderer Pilz ist die Trüffel, die nur unterirdisch existiert (das Mycel geht eine Verbindung mit Laubbäumen ein) und deshalb einen so starken wohlriechenden Geruch produzieren muss, um von den Tieren oberhalb des Bodens wahrgenommen zu werden. Durch das Ausgraben und Fressen der Trüffeln tragen sie die Sporen in ihren Exkrementen weiter an andere Orte und sind dadurch für die Verbreitung verantwortlich. Die Preise für Trüffelplize sind entsprechend hoch, nur noch getoppt von Oud, einem Duftstoff, der aus einem von Pilz befallenen Harz des Adlerholzbaums, gewonnen wird, einem der teuersten Rohstoffe der Welt.
Das Pilzgeflecht, also das Mycel kann über seine Spitzen, die Hyphen mittels elektrischer Signalübertragung kommunizieren können, z.B. über Nährstoffquellen, Verletzungen etc. kommunizieren. Es ist ein dezentrales reaktionsfähiges Netzwerk, das sich unaufhörlich verändert. So wurde z.B. in einem Experiment Erde in Form der britischen Insel aufgebaut, und die Städte mit Holzklötzen, die von Pilzen besiedelt sind, markiert. Das Mycel suchte sich also innerhalb der kürzesten Zeit die Verbindungen zwischen den Holzklötzen, und die entsprachen genau dem britischen Autobahnnetz. Wobei sich das Mycel gleichzeitig in mehrere Richtungen vor- und rückwärts bewegen kann, also flexibel ist und sich permanent umgestaltet.
8% der Erdoberfläche sind mit Flechten, die eine Symbiose zwischen Pilzen und Grünalgen bilden, verkrustet. Wobei die unverwüstlichen Flechten ganze Küstenstreifen besiedeln, ebenso problemlos im Weltall, in eisiger Kälte, praktisch ohne Wasser oder im Wasser überleben, sogar Steine zersetzen oder bis zu 9000 Jahre alt werden können.
Pilze gehen auch Beziehungen mit Tieren ein, für diese aber nicht immer erfreulich. Der Ophiochordyzeps z.B. nistet sich in Ameisen ein, zwingt sie das Nest zu verlassen und auf eine höher gelegene Pflanze zu klettern um sich dort festzubeissen. Die Ameise wird quasi ferngesteuert. Nun wächst ein Pilzfruchtkörper aus der Ameise heraus, heftet sie an das Blatt und verdaut dann den Körper der Ameise. Der Ophiochordyzeps hatte ca. 40 Mio. Jahre Zeit für diese äusserst raffinierte (und auch leicht gruselige) Manipulation, in der die Ameise ihren durch die Evolution vorbestimmten Weg verlässt und zum Pilz wird.
Die Pilze treten aber auch in Beziehung zum Menschen. LSD oder Psilocybin z.B. stammen aus dem Mutterkornpilz, wobei es eine Vielzahl von anderen Pilzen mit psychedelischen Wirkstoffen gibt, die in unser Bewusstsein eindringen und es radikal verändern können. Nicht klar ist, warum die Pilze solche Fähigkeiten erlangt haben. Nicht nur massive Bewusstseinsveränderung sondern auch therapeutische Heilerfolge (mit Psilocybin) bei Angst und Depressionen sind vielversprechend. Offenbar wirken sich diese Substanzen über den Weg des Geistes auf die Störungen aus, wobei die psychedelische Erfahrung per se d a s Heilmittel ist.
Und es darf wieder geforscht werden, nachdem seit Anfang der 70er Jahre – ich war dabei! – zuerst von den Amerikanern jeglicher Drogenkonsum und ebenso die entsprechende Forschung verboten worden sind, was weitreichende Konsequenzen nach sich gezogen hatte. Von der Kriminalisierung Millionen Jugendlicher über eine, die Gesellschaft bedrohende Beschaffungskriminalität bis hin zur weltweiten Drogenmafia und dem Entstehen von Schurkenstaaten, die ihre weltweiten Terror- aktivitäten ausschließlich über Drogen finanzieren. Vom Steuerentgang mal ganz zu schweigen.
Magische Pilze dürfte es schon seit 75 Mio. Jahren geben und die ersten Aufzeichnungen darüber stammen aus Höhlenmalereien in Algerien von vor ca. 8000 Jahren. Im 20. Jh. waren es dann vor allem der Schweizer Chemiker Alfred Paul Hofmann und der amerikanische Psychologe Timothy Leary, konsequent die Auswirkungen von halluzinogenen Pilzen erforschten. Siehe auch mein Blog über T.C. Boyles Roman über Timothy Leary. Jedenfalls ist der Gedanke sehr spannend, dass die Pilze den Menschen über die Bewusstseinsänderung lenken und verändern können. Der springende Punkt bei dieser Bewusstseinsänderung ist wohl die Tatsache, dass dabei das Ego völlig in den Hintergrund tritt und man mit der Welt "eins wird". D.h. dadurch erlangt man auch eine völlig andere Einstellung zur Umwelt. Und die Pilze wissen, wovon sie reden, sie haben alle fünf großen Aussterbe-Ereignisse, bei denen zw. 75 und 95% aller biologischen Arten ausgerottet worden sind, problemlos überstanden. Allerdings warne ich persönlich zur Vorsicht bei LSD und sonstigen halluzinogenen Substanzen, man sollte sich vorher erkundigen bei Leuten, die das schon (erfolgreich) ausprobiert haben.
Hefepilze sorgen für die Umwandlung von Zucker in Alkohol und waren vor ca. 12.000 Jahren unerlässlich für die Entstehung von Bier und Brot, die offensichtlich mit der Sesshaftigkeit der Nomaden einhergeht. Man könnte diese Neolithische Revolution auch als "Domestizierung durch die Hefe" bezeichnen. Pilze sind ein weiteres Mal verantwortlich für das Eintauchen des Menschen in Parallelwelten, diesmal mittels Alkohol. Der zwar keine bewusstseinserweiternde Funktion ausübt, aber den Menschen emotional sehr stark verändern kann, und zwar in alle Richtungen. Und im Westen seit den 70er Jahren zur einzigen tolerierten Droge wurde. Unverständlicherweise, denn er ist um vieles schädlicher als fast alle anderen Drogen zusammen. Dass der Mensch Alkohol überhaupt abbauen kann dürfte wohl daher kommen, dass die Primaten auf dem Waldboden die vergorenen heruntergefallenen Früchte zu sich nahmen.
Die Mykorrhizapilze gehen eine Symbiose mit Pflanzen ein, wobei der Pilz das unterirdische Wurzelsystem so regelt, dass Phosphat, Nitrat und Salze an die Pflanze abgegeben werden und im Gegenzug dafür werden Kohlenhydrate geliefert. Es geht also um eine Kooperation, um einen Austausch. Pflanzen, die ein Netzwerk mit anderen teilen, wachsen schneller und besser als Pflanzen, die davon ausgeschlossen sind. Wenn z.B. ein Pilz mit mehreren Pflanzen verbunden ist und eine davon von Blattläusen angegriffen wird, dann leiden beide darunter. Die Pflanzen im Alarmzustand produzieren eine größere Wolke von Chemikalien, die Wespen anlocken, als eine einzelne. Und der Pilz verstärkt die chemischen Signale noch. Netzwerke, die beiden Seiten nützen. Es geht um das Verhältnis zwischen Konkurrenz und Kooperation, etwas, das die Pilzforschung ungewollt hochpolitisch macht und – wie könnte es anders sein – in zwei Lager spaltet. Den "Kapitalisten" unter ihnen, denen die Konkurrenz und den "Sozialisten", denen die Kooperation im Vordergrund steht.
Die Pilze haben die fünf großen Massenaussterben überstanden, bei denen jeweils 75% bis 95% aller biologischen Arten ausgerottet worden sind. Sie waren vor uns da und werden nach uns da sein, was immer wir mit diesem Planeten auch noch anstellen mögen. Und sie sind praktisch unverwüstlich.
Die Pilze sind auch die ersten Lebewesen, die sich nach atomaren Intermezzi wie z.B. in Tschernobyl ansiedeln. Die Pilze können alles abbauen, entgiften oder verwandeln. Z.B. Pestizide, synthetische Farbstoffe, Sprengstoffe wie TNT, Kunststoffe oder Antibiotika in Wasseraufbereitungsanlagen. Der Pleurotus (ein Seitling) wurde in Laborversuchen darauf trainiert, ausschließlich Zigarettenstummel zu verdauen. Im Regenwald von Ecuador wird mit Pilzen versucht, die giftigen Nebenprodukte der Rohölgewinnung zu beseitigen. Man nennt das auch Mycoremediation, eine Wissenschaft, die gerade im Entstehen ist und vielversprechend wirkt. Und wohl viele unlösbare Probleme lösen könnte. Schließlich sind die Pilze seit einer Mio. Jahren darauf trainiert, alles zu verzehren.
Mycoremediation könnte also DIE Geheimwaffe sein, um Umweltgifte abzubauen, sprich die Umwelt global zu sanieren, falls das denn auch wirklich gewünscht wird und die entsprechenden Mittel global zur Verfügung gestellt werden. Aber da müssten sich Politiker, Financiers und andere weltbestimmende Akteure wohl erst mal einer bewusstseinserweiternden Pilzkur unterziehen..:-)
Wien, 17.02.21
mathias rüegg
ps: liebe Anaïs, danke für dieses außergewöhnliche Buch!
2021
23.9. Der weise Mann und der Tod
1.4. Sibiriens vergessene Klaviere
4.3. Die seltsamsten Sprachen der Welt
17.2. Verwobenes Leben
2019
17.11. Warum ich gerne ein alter
weisser Mann bin
06.10. Das Auto, das Schnitzel und
das Klima
22.9. Warum ich demokratiepolitisch
noch Jungfrau bin
08.09. 400 Jahre Sklaverei, 50 Jahre
Woodstock und 90 Jahre Oscar
23.6. Zorica, meine Reinigungsfee
9.6. Passiv fahren, passiv trinken, passiv essen
& passiv rauchen
12.5. Warum ich den siebten Bezirk nur
ungern verlasse!
28.4. Warum ich für die Abschaffung des ORF
in der jetzigen Form bin
14.4. Gedanken zum (neuen) Urheberrecht aus der
Sicht eines Urhebers
10.02. Was die heutige Mode und Facebook
gemeinsam haben.
2018
25.12. Mein persönlicher Bezug zum Christentum