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Blog 2021 - über's Leben

Blog 25.4. 2021

 

Im Grunde gut        

Eine Neue Geschichte der Menschheit

Rutger Bregman, Rowohlt

 

Die zwei verschiedenen Weltbilder der Philosophen Thomas Hobbes und Jean Jacques Rousseau, der im Gegensatz zu Hobbes an das Gute im Menschen glaubte, bilden die Rahmenhandlung  in diesem Werk, in dem es vor allem um das Aufzeigen von Situationen geht, in denen sich der Mensch schlussendlich ganz anders als bisher angenommen verhalten hat, bzw. verhält. Wobei dabei die Fassadentheorie des Biologen & Primatenforschers Frans de Waal – die Moral des Menschen sei nur eine brüchige Fassade, die jederzeit einstürzen kann – hinterfragt wird. De Waal kommt zum Schluss, dass genau das Gegenteil der Fall ist, und das versucht Bregman an Hand einer Vielzahl von Beispielen zu belegen. 

Beim Hurrikan Katrina in New Orleans 2005 hatten sich die Menschen, im Gegensatz zu den  zahlreichen Medienberichten, hilfsbereit/kooperativ und nicht plündernd/mordend verhalten. Das extrem verzerrte negative Weltbild (Nachrichten sind für den Verstand, was Zucker für den Körper ist) der Medien ist immer wieder Thema. Dabei leben wir in einer Welt, in der es immer weniger Armut, (siehe Factfullness von Hans Rosling), immer weniger Gewalt (siehe Gewalt von Steven Pinker, und immer weniger Kindersterblichkeit gibt. Obwohl wir (zumindest im Westen, aber nicht nur) in der reichsten, sichersten und gesündesten Ära aller Zeiten leben, sehen wir fast alles nur negativ. Das sollten wir uns (meiner Meinung nach) wenn schon, dann höchstens für den Klimawandel aufbewahren. Aber auch dort gäbe es andere, weniger pessimistische Sichtweisen, siehe Das Das-Megatrend-Prinzip von Manfred Horx.

 

Der amerikanische Schriftsteller William Golding  veröffentlichte 1954 den Roman Lord of the Flies, der davon handelt, wie zwanzig britische Schuljungen sich nach einem Flugzeugabsturz auf einer einsamen Insel wiederfinden, und ihr Zwangsaufenthalt in einem brutalen Chaos endet. In diesem "realistischen" Buch über Kinder, das ein Millionenhit wurde und bleibende Spuren hinterließ, wird gezeigt, wozu selbst der junge Mensch (schon) "fähig" ist. Bregman zweifelte daran, dass sich Kinder so verhalten würden und stieß durch unglaubliche Zufälle - dank dem Aufspüren des rettenden Kapitäns, auf folgende Geschichte: In dem Internat St. Andrew  in Nukuálofa (Tonga) langweilten sich 1966 sechs Jungs zwischen dreizehn und sechzehn zu Tode und beschlossen, mit einem geklauten Fischerboot praktisch ohne Proviant, Ausrüstung und irgendwelche Kenntnisse, eine entlegene Insel aufzusuchen. Sie gerieten in einen Sturm und landeten nach vielen Tagen tatsächlich auf einer unbewohnten Insel namens Ata. Dort überlebten die Kinder als Kommune mit allen notwendigen Spielregeln und Ritualen, die sie selbst erfunden hatten – sie konnten sich ernähren, Konflikte lösen, auf selbst gebauten Instrumenten musizieren und sogar einen Beinbruch erfolgreich heilen, anderthalb Jahre lang – bis sie gefunden und gerettet wurden. Lord of the Flies wurde zwei Mal groß und erfolgreich verfilmt. Für die wahre berührende Geschichte auf Ata gab es hingegen kein Interesse.

 

Im Jahr 1958 wollte der russische Genetiker Dimitri Beljajew wissen, ob man einen Fuchs in einen Hund verwandeln kann und wie lange man dazu braucht. Zusammen mit seiner Praktikantin Ludmilla Truts wählte er den extrem aggressiven Silberfuchs aus, wobei ausschließlich die wenigen Tiere mit geringem Aggressionspotential ausgesucht wurden. Bereits in der vierten Generation wedelte der erste Fuchs mit dem Schwanz. Ein paar Generationen später begannen die Füchse, denen mittlerweile die Ohren runterhingen, zu bellen und die Männchen und Weibchen begannen sich immer mehr zu ähneln. Die Aggression nahm laufend ab und anstelle von Stresshormonen produzierten die Tiere mehr Serotonin (Glückshormon) und Oxytocin ("Kuschelhormon"). Und die Tiere erwiesen sich als klüger als ihre aggressiven Pendants! The survival of the friendliest – ausschlaggebend war einzig und allein die Auswahl der freundlicheren Tiere!

 

Samuel Marshall 14), amerikanischer Offizier und Historiker, stellte 1943 fest, dass die meisten seiner Soldaten bei einem Überfall auf die Insel Makin im Pazifik 15) nicht geschossen hatten. In seinem Buch Man against fire (leider lässt sich dazu nichts finden) schreibt er, dass der Durchschnittsmensch eine natürliche Hemmung vor dem Töten hat. Nach unzähligen Interviews in den USA und an der europäischen Front stellte er fest, dass nur zwischen 15% und 25% der Soldaten im Krieg geschossen hatten. Ende der 60-er Jahre – in der Hochblüte der "Der-Mensch-ist-schlecht"-Periode, wurde die Integrität Marshalls in Zweifel gezogen. Doch in den vergangenen Jahren wurden seine Behauptungen schrittweise bestätigt.

 

Als der Mensch vor ca. 10.000 Jahren sein Nomadensein aufgab und sesshaft wurde, begann die Ära des Privateigentums und damit die Ära des Krieges und gleichzeitig des Misstrauens gegenüber Fremden. Die Nomaden zuvor sind sich aus dem Weg gegangen. Durch die Landwirtschaft wurde der Mensch gezwungen, immer mehr zu arbeiten. Die Söhne bleiben bei ihren Vätern zuhause und die bis dahin gleichgestellten Frauen landeten nun plötzlich als (jungfräuliche) Ware mitten im Patriarchat. Es entstanden größere Siedlungen und mit ihnen Götter, deren Lieblingsbeschäftigung das vielfältige und komplexe Strafen der Menschen war. Die Meilensteine der Zivilisation Geld, Schrift und Rechtsprechung dienten vor allem der Unterdrückung. Das antike Athen, die Wiege der Zivilisation, bestand zu zwei Dritteln aus Sklaven. Und noch bis zur französischen Revolution gab es in fast allen Staaten der Welt Zwangsarbeit, wobei mehr als 80% in extremer Armut lebten. Im Mittelalter starben noch 12% der Bevölkerung Europas und Asiens eines gewaltsames Todes, heute sind es in Westeuropa 0,1 %.

 

1961 gab der amerikanische Psychologe Stanley Milgram ein Inserat auf, in dem fünfhundert einfache Männer für die Erforschung des menschlichen Gehirns gesucht wurden. Durch das Los wurde bestimmt, wer "Lehrer" und wer "Schüler" war. Jedes Mal, wenn der "Schüler" einen Fehler machte, wurde der "Lehrer" von einer Drittperson angewiesen, dem "Schüler", der hinter einer Glaswand saß, Stromstöße bis zu 450 Volt  zu verpassen. Entgegen aller Voraussagen, gingen 65% der braven und biederen Teilnehmer bis an die Grenze zur Exekution. Damit wollte Milgram beweisen, dass der Mensch schwerst autoritätshörig und bereit ist, bis zum Äußersten zu gehen. Dem Autor dieses Buches, Bregman, kam dieses international bestens bekannte Milgram Experiment unschlüssig vor. Er stellte in verschieden Recherchen fest, dass die "Lehrer" teilweise extrem unter Druck gesetzt wurden, wobei es sich herausgestellt hatte, dass nur die Hälfte aller Teilnehmer an eine Ernst-Situation geglaubt hatte. Laut niemals veröffentlichten Analysen brach die Mehrheit der Teilnehmer das Experiment in dem Moment ab, als sie glaubte, die Schocks seien echt. Es sollte sich zusätzlich herausstellen, dass viele der Teilnehmer, die sehr weitgegangen sind, der Meinung waren, sie würden der Wissenschaft etwas Gutes tun, was dem Allgemeinwohl zugute käme. Das hört sich so natürlich ganz anders an. Und nicht viel anders verhält es sich mit dem ebenfalls mehr als bekannten Stanford-Prison-Experiment von Philip Zimbardo, der damit einer der berühmtesten Psychologen seiner Zeit wurde. In beiden Fällen wurden fragwürdige Experimente von fragwürdigen Psychologen durchgeführt, die damit massiven Schaden in der öffentlichen Wahrnehmung angerichtet hatten und es wohl noch immer tun.

 

Am 1.10. 1943 sollten um 20 Uhr sechstausend dänische Juden von deutschen Soldaten aufgegriffen und auf ein Schiff verladen werden. Die Dänen wurde drei Tage davor gewarnt und beschlossen einhellig, kollektiven Widerstand zu leisten und schafften es, unbemerkt sieben Tausend Juden nach Schweden zu verfrachten. Und praktisch alle überlebten.

 

1963 wurden von Robert Rosenthal in einem Experiment zum Thema Self-fulfilling prophecy beliebige Schüler per Münzwurf ausgewählt, denen bescheinigt wurde, dass sie sie die führenden Köpfe in der Zukunft sein werden. Diese Schüler schafften innerhalb eines Jahres einen beachtlichen IQ-Sprung um zwanzig oder mehr Punkte. Unterdessen hat sich das Wissen durchgesetzt, dass positive Erwartungen positive Resultate nach sich ziehen und umgekehrt.

 

1989 vertraute die brasilianische Stadt Porto Alegre (wir hatten mit dem Vienna Art Orchestra 21) in den Nullerjahren dort zwei Konzerte gegeben) seinen Bürgern ein Viertel ihres Etats an, zehn Jahre später waren es bereits 200 brasilianische und 1000 südamerikanische Städte. Unterdessen gibt es über 1500 Städte  von NYC über Sevilla bis Mexico Stadt mit einem Bürgerhaushalt, obwohl davon wohl die wenigsten (ich zähle mich dazu) gehört haben. Als Schweizer jedoch kommt einem das bekannt vor, denn dort passiert das in jeder Gemeinde und in jedem Kanton unter dem Motto Direkte Demokratie. Jedenfalls hatte sich die finanziell geplagte Stadt durch diesen Schritt glänzend erholt und vieles, vor allem die Korruption,  verbesserte sich massiv unter den Augen der wachsamen und aktiven Bürger.

 

Im liberalen norwegischen Gefängnis Bastøy auf der gleichnamigen Insel sitzen Schwerkriminelle ein. Die Ausbildungszeit der Aufseher/Innen (40% Frauen!) beträgt zwei Jahre, wobei sich Wärter/Innen (ohne Uniformen) und Insassen die Insel teilen und das meiste gemeinsam machen. Der Lohn für so viel Vertrauen ist die weltweit niedrigste Rückfallquote im Strafvollzug mit nur 16%, in den amerikanischen Gefängnissen beträgt diese 60%! Zwischen 1972 und 2007 nahmen die Insassen, bereinigt um das Bevölkerungswachstum, um 500% zu,  und die Insassen sitzen im Durchschnitt sieben mal länger ein als in Norwegen. Wo übrigens auch die Eingliederung in die Gesellschaft und in den Arbeitsmarkt entsprechend besser funktioniert.

 

Dieses Buch bietet zusammen mit Factfullness von Hans Rosling, Gewalt von Steven Pinker und Das Megatrend Prinzip von Manfred Horx – von dem der nächste Blog handeln wird – spannende neue Einsichten und Zukunftsperspektiven, die einen Gegenpool zur kollektiven Schwarzmalerei bilden.

 

Wien, 23.4. 2021

mathias rüegg

 

ps: Liebe Anji, danke für das Buch!

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