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70 Jahre Harry Sokal
 

Siebzig werden ist nicht nichts, meine Damen und Herren und lieber Harry. Das durfte ich vor knapp anderthalb Jahren zur Kenntnis nehmen, ebenfalls hier im Porgy & Bess, einen Wimpernschlag vor Dir. Einerseits kommt es einem selber wie ein schlechter Scherz vor, andererseits wie eine üble Laune der Natur. Aber nachdem wir zwei ja nicht die Einzigen sind, denen so was widerfährt, müssen wir uns halt damit abfinden. Und mit ein wenig, oder besser - viel Schummeln, werden wir immer jünger, brillanter und genialer! Aber wir könnten uns auch zurücklehnen und feststellen, dass wir die besten aller Zeiten erwischt haben, in denen der Jazz noch etwas bedeutet hatte, die Plattenfirmen alle Geld hatten, es Tourneen mit vielen Konzerten und entsprechenden Gagen in ganz Europa gab, Jazzfestivals wie Pilze aus dem Boden geschossen sind, überall Talent Scouts unterwegs waren und der Jazz noch kaum akademisiert war. Auch wenn man sich trotzdem um alles sehr bemühen musste. Was Du im Übrigen immer gut konntest!

 

18. Mai 1978, Montanuniversität Leoben. Konzert mit dem Wiener Art Orchester, zweites Set, drittes Drittel. Solo Harry! Mitten im Solo hörst Du langsam auf, fällst in Dich zusammen und schaffst es gerade noch bis hinten zur Wand, an die Du angelehnt einschläfst. Das nicht gerade zahlreiche Publikum - weniger Zuhörer im Saal als Musiker auf der Bühne, dürfte nichts bemerkt haben. Auch während des gesamten Abbaus bliebst Du an der Wand stehen. Dann beschlossen wir, Dich an Dein Lieblingsinstrument, das Schlagzeug, das wir noch nicht weggeräumt hatten - mit dem Kopf auf der Snare liegend, zu setzen, um Dich dort aufzuwecken, was uns nur mit Müh und Not gelungen ist. Du, völlig verwirrt, ganz allein am Schlagzeug auf einer riesigen Bühne, hattest nichts mehr verstanden! Des Rätsels Lösung: Trompeter Franz Koglmann hatte Dir in der Pause Mozambin Forte, ein starkes Schlafmittel, in Deinen Drink gemischt. 

Solche Stories - und davon gab es unendlich viele, haben Deinen Ruhm als Legende begründet. Und dafür haben Dich alle gleichzeitig geliebt und gehasst, niemand hat so polarisiert wie Du lieber Harry! Aber am Schluss waren immer alle hingerissen von Deinen außergewöhnlichen Soli. Und sag nicht, dass Du es nicht auch genossen hast, dieses Pendeln zwischen den Dir entgegengebrachten Emotionen..:-)

 

Zwischen 1977 bis 1985 gab es Deine erste Formation Timeless mit dem leider verstorbenen Uli Scherer, Heiri Känzig und Joris Dudli. Von 1985 bis 2005 dann das groovige Trio Depart mit Jojo Mayer und Heiri Känzig, seit 2006 mit dem Slowaken Martin Valihora am Schlagzeug. Parallel dazu warst Du von 1978 bis 2000 Mitglied des Art Farmer/Fritz Pauer-Quintetts, Deiner Jazz-Ausbildungsstätte sozusagen. Daneben hattest Du Dir als gefragter Sideman lustvolle Ausflüge in Friedrich Guldas Technoband und zu zahlreichen Austropoppern wie z.B. Falco gegönnt. Auch Gansch & Roses stehen auf Deiner Liste, und als Frontman bist Du auf über 15 CDs unter eigenem Namen zu hören.

 

Dann warst Du als Gründungsmitglied genau 30 von 33 Jahren lang bei "uns", bei mir im Vienna Art Orchestra - mit dem wir fast die ganze Welt bereisten - auf 35 CDs mit 35 brillant ausgefuchsten Soli zu hören. Zehn Jahre lang (von 1978 bis 1987) standest Du Seite an Seite mit den Kollegen Wolfgang Puschnig und Roman Schwaller, alle drei eine Ausgeburt an Virtuosität, Intensität und Spielfreude, Euch dauernd gegenseitig überbietend. "Auftrag ausgeführt, alle weg gegeigt" pflegtet Ihr zu sagen, wenn Ihr auf Tour von irgendeiner Session nach dem Konzert zurück wart. 

Und ja, die Saxophone-Section des VAO, die einen großen Anteil an den frühen internationalen Erfolgen hatte,  war immer etwas Besonderes. Nicht zuletzt dank Dir lieber Harry. 

 

Du bist ein ausgesprochener First Take-Musiker, ebenso ein Instinktmusiker, der damals hie und da auch mit kleinen Tricks nachgeholfen hatte, auch wenn es eigentlich gar nicht notwendig gewesen wäre. Ich erinnere mich an das legendäre Rudy van Gelder-Studio in New Jersey, in dem ein Großteil der Blue Note-Aufnahmen in den 50er und 60er Jahren entstanden sind. Wir hatten dort Mitte der 80er Jahre drei Tage lang ein Album aufgenommen. Du hattest Dir jeweils eine Line griffbereit aufgelegt, die Du Dir dann kurz vor Deinem Solostück reingezogen hast, und zwar so, dass es punktgenau gewirkt hat. Das war der ausgeklügelte strategische Einsatz von Kokain eines gnadenlosen Perfektionisten! Das Album ist übrigens nie erschienen..

 

Du hattest - und hast immer noch - so viel anzubieten: Deine gnadenlose Rhythmik, Deinen super Sound am Tenor und am Sopran, Deine Virtuosität, Dein großes melodisches und harmonisches Wissen und Verständnis sowie Deine äußerst breitgefächerte Stilistik, die irgendwo zwischen Coleman Hawkins, Steve Grossman und Dir angesiedelt ist. Mein Lieblingssolo hast Du übrigens über After Decades Of Doughts auf dem Album Third Dream gespielt - ursprünglich für Kammerorchester geschrieben. Du hattest Dir drei Monate Zeit genommen, um dieses schwierige und komplexe Stück zu analysieren und darüber spielen zu können. Das war, ist, schon sehr außergewöhnlich lieber Harry. Ich kenne kaum einen anderen Jazzmusiker, der sich so viel Zeit genommen und das so brillant gelöst hätte! Du hast n i e "eine Ruh gegeben", bevor etwas nicht absolut perfekt war, das hat Dich ausgezeichnet. Und Du warst immer bereit, jede musikalische Herausforderung, egal welcher Art, anzunehmen und perfekt zu lösen. Und immer mit einer unglaublichen Intensität, die manchmal schon fast schmerzte. Deine Besessenheit war ein Privileg und diente immer ausschließlich der Musik, auch wenn das manchmal von den Mitmusikern anders empfunden wurde. 

 

In den letzten Jahren bist Du etwas ruhiger und gesetzter geworden. Du hast über fünf Jahrzehnte die Stellung innegehalten, als einer der großen europäischen Tenoristen und Sopranisten. Dafür danken wir Dir ungehemmt, lieber Harry! 

Happy Birthday und mach's weiterhin gut!

 

Wien, 18.3.2024

mathias rüegg

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